Seit bald einem Jahr kann ich nicht mehr alleine die Bibel lesen, weil ich dann mehr Fragen als Antworten habe. Und diese Fragen lösen so viel Wut und Traurigkeit in mir aus, dass ich zu zittern, zu weinen oder zu schimpfen beginne. Also lasse ich es lieber. Ich lasse meinen seit fast 20 Jahren sonst täglichen Begleiter (Bibel) liegen. Und suche sonst Antworten: In Gesprächen, in Musik, in der Natur, in Büchern, in Filmen, in Predigten, in Diskussionen. Und auf meiner Suche komme ich immer mehr zum Schluss, dass ich glaubensmässig nicht mehr so weitermachen will wie bis anhin.
Ich sehne mich nach einem Gott, der jeden annimmt. Aber meine Kirche kann Menschen aus der Gemeinschaft ausschliessen. Aber woher nehmen wir uns das Recht, über andere zu urteilen? Nicht mal
Jesus hat den Stein auf die Ehebrecherin geworfen (nachzulesen in Johannes 8, 1-11). Andererseit hat er den reichen Jüngling weggeschickt und ihm keine zweite Chance gegeben (nachzulesen in
Markus 10, 17-27), aber sagt, dass bei Gott alles möglich ist, als ihn die Jünger erschüttert fragen, wer denn noch gerettet werden könne. Ebenso hat er die Händler aus dem Tempel getrieben
(nachzulesen in Matthäus 21, 12-17).
Ich sehne mich nach einem Gott, dem es nicht wichtig ist, was wir tun, sondern warum wir es tun. Scheinheiligkeit ist Gott ein Gräuel (nachzulesen Lukas 18, 9-14 "laut beten" und Lukas 21, 1-4
"viel spenden") und doch sehe ich in vielen christlichen Gemeinschaften und bei mir viel zu wenig Authenzität. Mir wurde bereits in der Sonntagsschule gelernt, was ich tun darf und was nicht.
Also tue ich es, weil man es tut. Aber ich glaube, wenn ich die Liebe Gottes verstanden habe, muss mir niemand mehr erklären, was ich tun sollte, sondern ich tue es einfach.
Ich sehne mich nach einem Gott, der Einheit und Annahme stiftet. Wo es nicht um Etiketten, Klauseln und Glaubensbekenntnisse geht, sondern um eine lebendige Beziehung mit ihm. Eine Beziehung, die
sich in jedem Lebensbereich auswirkt. Nicht weil sie es sollte, sondern einfach weil sie es tut.
Ich sehne mich nach einem Gott, bei dem Mann und Frau gleich viel Wert haben, das gleiche tun können, nicht weil sie es wollen, sondern weil Gott sie so geschaffen hat.
Ich sehne mich nach einem Gott, dessen Nachfolger nicht ständig meinen ihren Gott verteidigen zu müssen und dabei eigentlich nur ihr momentanes Gottesbild verteidigen.
Ich sehne mich nach einem Gott, dessen Nachfolger nicht meinen, es schwieriger in dieser Welt zu haben als die anderen und dabei einfach Normen, Regeln und Traditionen von ihren Gemeinschaften
übernehmen, ohne dies zu hinterfragen. Und wenn jemand Fragen stellt, dies dann als Vertrauensverlust gegenüber Gott oder gar als Gotteslästerung ansehen.
Ich sehne mich nach einem Gott, dessen Wort nicht so verschiedentlich mit Vehemenz ausgelegt wird ohne doch praktische Antworten fürs Leben zu geben.
Ich sehne mich nach einem Gott, dessen Nachfolger mit Demut auf ihren eigenen Glaubensweg zurückblicken und an Leidende nicht nur billige Ratschläge verteilen, indem sie in allem einen Sinn
suchen und dem freien Willen und dem Teufel die Schuld geben.
Und vielleicht sind das nicht nur beschriebene Sehnsüchte. Vielleicht sind das sogar Erwartungen. Erwartungen, die erfüllt oder enttäuscht wurden und werden. Immer und immer wieder. Erwartungen,
die sich eigentlich nicht falsch, aber irgendwie viel zu hoch gesteckt anfühlen.
Ein Wendepunkt. Hmm, eine Wendung vielleicht, weil wieder zurück zum Start. Viel eher ein Wendeweg. Ein Punkt im Sinne von vor dem Punkt hinter mir lassen. Und doch hat mich dies geprägt. Und
auch nicht nur zum Schlechten. Prüfet alles und behaltet das Gute. Nur: wie weiss ich, was gut ist?
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Kath (Mittwoch, 14 September 2016 21:56)
Habe deinen Eintrag gelesen und hatte Gänsehaut. Danke für das so ehrliche und offene Teilen deiner Gedanken. Es sind genau diese Gedanken, welche mich seit mehr als einem Jahr beschäftigen und nicht mehr loslassen.
Du hast es so gut formuliert und auf den Punkt gebracht.
'...Aber ich glaube, wenn ich die Liebe Gottes verstanden habe, muss mir niemand mehr erklären, was ich tun sollte, sondern ich tue es einfach….'
Vor allem dieser Satz spricht mir so aus dem Herzen . So will ich es haben! Wie komme ich zu diesem Punkt??
Darum ist mein Gebet, dass ich und wir diese Liebe Gottes noch mehr von Herz zu Herz erfahren und zulassen, seine Gedanken noch mehr verstehen können. Darum geht es ihm doch!? 1. Kor. 13
Eine befriedigende Antwort habe ich bis jetzt auch keine und ich weiss auch nicht, ob ich je eine haben werde, ausser dass ich glaube und erfahren habe, dass Gott existiert und er so viel höher und grösser ist, als ich es je in diesem Leben verstehen oder nachvollziehen kann (Jesaja 55,8/ Jesaja 40, 12ff, 1.Kor. 13,9)
Ausser dass ich glaube und erfahren habe, dass Gott sehr persönlich ist und es nicht nur schwarz oder weiss gibt, sondern auch ganz viele verschiedene Graustufen und noch viel mehr Farben und ihre Nuancen und es schlussendlich immer eine Frage der Perspektive ist.
Ausser dass ich mir kein Urteil über das Leben eines anderen Menschen bilden kann, weil ich nicht seinen Weg gegangen, nicht seine Schritte gemacht habe und nicht seine Herzensmotive kenne und auch, weil ich nicht Gott bin.
Ja, dieser Moment ist ein Wendeweg, ein weiterer wichtiger Schritt auf deinem persönlichen Weg mit Gott, der wie es scheint nicht einfach ist, aber sehr ehrlich und mutig. Nicht von Angst motiviert sondern von echter Sehnsucht nach der Wahrheit. Ehrlichkeit wird immer belohnt und wer sucht der wird finden. Halte dich daran fest, du starke und mutige Frau.