Wo bliebst du bloss, liebe Zivilcourage? Gestern, als sich zwei Männer im Tram anstressten. Dabei sah es doch zunächst so aus, als kannten sie sich, der dunkelhäutige Geschäftsmann und der betrunkene Mann. Sie sprachen jedenfalls in einer mir unbekannten Sprache... Doch es täuschte. Vielleicht. Jedenfalls verfolgte der Betrunkene den Geschäftsmann, als dieser im Tram davongehen wollte, um Distanz zu gewinnen. Und die Tonart des Betrunkenen liess erahnen, dass die Eskalation kurz bevor stand. Der Geschäftsmann sprach immer wieder beschwichtigend auf ihn ein. Nichts half. Das ganze Tram hielt den Atem an. Ein spannendes Drama mit unbekanntem Ausgang. Die Rollen waren klar verteilt: Zuschauer und Schauspieler. Ein Eingreifen der Zuschauer scheinbar nicht vorgesehen. Kurz vor dem Aussteigen des Geschäftsmannes stand doch ein junger Zuschauer auf und versuchte den Betrunkenen ebenfalls zu beruhigen. Doch die Situation eskalierte, als der Betrunkene dem Geschäftsmann an die Gurgel wollte und anschliessend sein Bier über dem Geschäftsmann verschüttete. Die Zuschauer applaudierten nicht, sie wechselten ihre Sitzplätze eine Reihe nach hinten. Das war alles. Liebe Zivilcourage, wo bliebst du? Hast dich einfach aus dem Tram gestohlen? Wie hat sich wohl der Geschäftsmann in dem gut besetzten Tram gefühlt, von allen (ausser dem jungen Zuschauer) allein gelassen? Keiner fragte, ob sie sich kennen. Ob es ihm gut ginge. Ob der Betrunkene sich doch einfach setzen und ruhig sein könnte. Ob man sein Handy doch schnell weglegen sollte oder zumindest die Polizei damit rufen. Keiner half. Inklusive mir. Scham pur. Verdanke doch genau ich mein Leben einer eingreifenden Frau, die noch zwei kleine Kinder bei sich hatte. Es gibt also keine Ausreden. Keine. Wenigstens die Polizei rufen kann jeder. Jeder. Gott, hilf mir, dass ich nie mehr einfach nur zuschaue. Liebe Zivilcourage, komm zurück!
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